Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.
Biographien

Villinger und Schwenninger Schicksale

Viele der bisher in den Mahnwachen verlesenen Schicksale von Opfern des Nationalsozialismus in Villingen und Schwenningen sind hier, oder über die linke Seitenleiste auswählbar.

Alphabetisch geordnet






Elsa und Emma Zaitschek (?-?)

Elsa: Ich – Elsa Zaitschek – bin am 17. Dezember 1893 in Damboritz geboren als älteste Tochter. Die wird schon bald gebraucht in der immer größer werdenden Familie, schließlich habe ich acht jüngere Geschwister. So lerne ich Haushaltsführung und versorge den Haushalt meiner Eltern und Geschwister; erst in Hagen in Westfalen, dann ab 1934 hier in Villingen.

Emma: Ich – Emma Zaitschek – bin am 10. Juli 1903 in Hagen geboren und die Zweitjüngste in unseren großen Familie. Mama nennt mich Emma,meine Geschwister Emmy. Ich mag beides.

Nach der Volksschule erlerne ich meinen Traumberuf: Hutmodistin. Zunächst bei der Fa. Stern in Hagen. Die Kunden sind begeistert von meinen Entwürfen, mein Chef auch. Dann bin ich bei der Konkurrenz, der Fa. Cohn, ebenfalls in Hagen ein großes Manufaktur- und Konfektionsgeschäft. Über Verkäuferin bringe ich es bis zur Abteilungsleiterin bei der Fa. Atlanta Schuh GmbH, Berlin und Hagen. Mein Bruder Felix arbeitet für dieselbe Firma.
Mich zieht es weiter. Ein Jahr arbeite ich für die Gebr. Alsberg in Hildesheim, dann zwei Jahre leitend als Empfangsdame bei Leonhard Tietz in Mainz.
Warum gebe ich diese Stelle auf?
Ich habe einen Mann kennen- und lieben gelernt, daher noch schnell bei meinen Eltern und Elsa Kochen und Haushaltsführung lernen – dann wird geheiratet.

Elsa: Unsere "feine Dame" Emma ist zurück und schält Kartoffeln. Sie ist so was von verliebt und will bald heiraten. Und ich? Da ist erst der kranke Vater. Zusätzlicher Aufwand an Pflege. Vater stirbt mit 75 Jahren hier im Städt. Krankenhaus am 6. Oktober 1935. Zusammen stehen wir am Grab.

Emma: Ich finde wegen jüdischer Abstammung dann keine Stelle mehr, mein Verlobter verschwindet aus Mainz, aus Deutschland, aus meinem Leben. Ich sehe ihn nie wieder. Ich helfe dann bis 1938 im Geschäft von Felix. Er kann mir jährlich nur 1.200 RM zahlen.
Schließlich verliere ich auch diese Stellung, weil Felix das Geschäft aufgeben muss.

Elsa: Mutter hat schon von unserer sogenannten "Übersiedlung" oder Auswanderung im September 1938 nach Brünn erzählt. Ich bin heilfroh, als wir gehen.

Emma: Ich ebenfalls, ahnen wir doch nicht, in welche Falle wir geraten.

Elsa: 10 Zaitscheks nun wieder unter einem Dach. Die Verhältnisse sind eng im Haus.

Emma: Mutter und wir zwei teilen uns ein Zimmer. Die Bewohner in Brünn sind freundlich, kein Vergleich zu Villingen. Wir werden nun Zaitschkova genannt, gewöhnen uns schnell daran und müssen lachen, dass die Männer Zaitschek heißen. Hitler hat die Sudeten zurück ins Reich geholt. Dann marschieren die Deutschen in Prag ein. Wir sind nun Protektorat Böhmen und Mähren, die Falle ist zugeschlagen.

Elsa: Protektorat – komisch – nun sind wir also unter den Flügeln des Führers.Doch was droht uns?

Emma: Am 2. Dezember 1941 werden wir von Brünn nach Theresienstadt deportiert. Von dort geht es am 9. Januar 1942 nach Riga.

Elsa: Nur für uns zwei. Mutter bleibt zurück. Sie wird erst nach uns im September 1942 in Theresienstadt umgebracht.

Emma: Zu uns beiden. Am 9. Januar um 14.40 Uhr geht der Transport "O" weg. Die Orga¬nisation hat hervorragend funktioniert. Der Kommandant ist zufrieden. Es glückt nicht alles beim ersten Wurf, aber heute ist dies der Fall. Und wenn dem so sei, dann läuft weiter alles wie am Schnürchen. Und in der Tat: Der Transport ist nicht einmal in der Tageszeitung der jüdischen Verwaltung erwähnt.

Elsa: Wir sind sehr lange unterwegs. Der Transport hält oft an und bewegt sich kaum. Hin und wieder sausen lange Militärzüge vorbei. Langsam ziehen die Tage und die Nächte da¬hin. Wir überqueren ganz Deutschland und anschließend die polnische Grenze. Je weiter wir kommen, desto kälter wird es. Es wird wenig ge¬heizt, und wir frieren in den alten Waggons.

Emma: In Polen fährt der Zug direkt nach Norden. Wir kommen an Königsberg vorbei. Auch Litauen bleibt zurück. Ich staune, wie lange der Zug in Schaulen hält. Bald überqueren wir die lettische Grenze und erreichten Riga.Wir kommen in einem fremden Land an, und kein Mensch ahnt, was auf uns zukommt.

Elsa: Wir sind 500 Juden aus Brünn und 500 Juden aus Prag. Wir kommen am Bahnhof an. Überall stehen deutsche Soldaten mit Hunden, aber sie lassen die Hunde nicht von der Kette los. Ich habe Angst.

Emma: Die Koffer wer¬den uns weggenommen. Sie versichern, dass wir das Gepäck zurückbekommen, aber da kommt nichts mehr zurück. So bleiben wir ganz unangemessen gekleidet. Der Himmel war fremd, aber klar. Unser Transporte kommt am 13. Januar 1941 am Rangierbahnhof Š?irotava an. Männer zwischen 18 und 40 Jahren sollen zur Seite treten, etwa 120 von uns. Alle anderen, so auch wir, werden in Busse geladen. Im Wald von Bi?ernieki befinden sich die größten NS-Massengräber Lettlands: 55 größere und kleinere Gräber mit einer Gesamtfläche von knapp 3000 m². Es ist die erste systematische Ermordung von Juden durch Massenerschießung während der Zeit des NS-Regimes. Vom Sommer 1941 bis zum Herbst 1944 werden hier etwa 35.000 Menschen von Sicherheitspolizei und lettischen Hilfskräften umgebracht. Zurückweichende deutsche Truppen versuchen gegen Ende des Krieges die verscharrten Leichen mithilfe von Teer zu verbrennen, um das Verbrechen zu verbergen. Dennoch – nachweisbar gelten folgende Opferzahlen: ca. 20.000 Juden aus Lettland, Deutschland, Österreich und Tschechien. Eine Massentragödie...

Massentragödie: Was ist eigentlich eine Tragödie der Massen?
Es ist eine Tragödie der Zahlen.
Können denn Zahlen einer Tragödie zugrunde liegen?
Können wir die Tragik der Lage nachvollziehen, wenn wir auf Fotografien oder auf dem Bildschirm sehen, wie Massen unbekannter Menschen nackt am Graben stehen und erschossen in die Grube fallen?
Bei diesem Anblick sind wir sicherlich entsetzt, aber eine innere Anteilnahme an dieser Tragödie stellt sich nicht zwangsläufig ein.
Es ist schwer, Mitleid mit einer einzelnen, anonymen Person zu entwickeln, da sie sich in der Masse der Getöteten verliert.
Und nun stellen wir uns vor, dass uns aus dieser Menschenmenge ein konkreter Mensch anschaut.
Wir sehen sein Gesicht.
Wer ist dieser Mensch?
Wie können wir sein Schicksal zurückverfolgen?
Dann verwandelt sich die Tragik der leblosen Zahlen in eine Erzählung über eine lebendige Person.
So wird die Geschichte der Massen zu einzelnen Geschichten.
Und jeder von ihnen; Lina wie Elsa und Emma, versucht, gegen den Strom zu schwimmen, während dieser sie unerbittlich in den Tod reißt.


Im Gegensatz zu Theresienstadt, das hinter einer Sanatoriums-Maske "für verdiente Juden" versteckt wird, ist das Rigaer Getto, die Konzentrationslager Salaspils und Kaiserwald nicht trügerisch: Sadismus und Vernichtungsaktionen gehören hier unabdingbar zum grausamen Alltag.

Deshalb standen wir bei unseren Forschungen über Elsa und Emma aus dem Riga-Transport "O" vor einer viel komplizierteren Aufgabe, als die über das Ghetto Theresienstadt.

Ganz unerwartet kamen uns die tschechische Polizei und das Innenministerium in Prag mit einer Datenbank zur Hilfe. Dazu ein kleines Büchlein "3000 Schicksale – die Deportation der Juden aus dem Ghetto Theresienstadt nach Riga" von Elena Makarova und Sergej Makarov – und ein Zufall: Ähnlich wie Beate und Serge Klarsfeld sind Elena und Sergej ein Ehepaar. Und die Endung Makarova typisch zur Bezeichnung der "weiblichen" Form.

Wir suchten also statt nach Zaitschek nach Zaitschková – das führte uns weiter.

Doch kam es uns vor wie "die Büchse der Pandora" zu öffnen.