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Biographien

Villinger und Schwenninger Schicksale

Viele der bisher in den Mahnwachen verlesenen Schicksale von Opfern des Nationalsozialismus in Villingen und Schwenningen sind hier, oder über die linke Seitenleiste auswählbar.

Alphabetisch geordnet






Margarethe Cäcilia Sterneck (12.05.1894-22.02.1945)

Margarethe Sterneck, in Schwenningen Frau Anni genannt, kommt am 12. 5.1894 in Wien als Margarethe Cäcilia Guttmann in einer jüdischen Familie zur Welt. Ausgebildet als Sängerin ist sie am Stadttheater Breslau engagiert, bevor sie nach Prag an das Neue Deutsche Theater (heute Staatsoper) geht, wo sie ihre ersten Erfolge als Solistin feiert. Sie wird vor allem in Wagner-Rollen geschätzt und tritt auch als Konzert- und Liedsängerin auf, u. a. 1921 mit dem Altsolo in Mahlers "Das Lied von der Erde" und als "Waldtaube" in Schönbergs "Gurreliedern".

In Prag lernt sie den Opernsänger Berthold Stern, Künstlername Sterneck (geb. 30. 4. 1887 in Wien), kennen, den sie am 14. Oktober 1922 heiratet. Sternecks erste Frau war im November 1919 gestorben. Wie die erste Ehefrau lässt sich Margarethe Guttmann am Tag vor ihrer Eheschließung evangelisch taufen, da Berthold Sterneck bereits 1918 vom Judentum zum evangelischen Glauben konvertiert war. Am 2.11.1923 wird die gemeinsame Tochter Johanna Freia – genannt Hanni - geboren. Bertholds Sohn Kurt aus erster Ehe, geboren 28.6.1919, kommt auch zur Familie. Danach tritt Margarethe Sterneck öffentlich nicht mehr auf. Ab Sommer 1923 ist Berthold Sterneck an der Bayerischen Staatsoper in München engagiert. Ab 1927 wird der Künstlername Sterneck auch offizieller Familienname.

Obwohl Berthold Sterneck aufgrund seiner künstlerischen Erfolge 1926 der Titel eines Bayerischen Kammersängers verliehen wird und er ein international gefeierter Sänger ist, wird sein Vertrag mit der Bayrischen Staatsoper 1936 wegen seiner jüdischen Abstammung nicht verlängert. Anfang 1937 wird er aus der Reichstheaterkammer ausgeschlossen – letzte Gastspiele im Ausland – danach Zwangsarbeit beim Lagerbau und in einer Kunstharzpresserei. Am 27. 6. 1939 kann die 15jährige Tochter Hanni mit einem der letzten Kindertransporte nach London emigrieren.

Kurt, der Sohn aus der ersten Ehe von Berthold Sterneck, wird 1938 Soldat bis er 1943 als Halbjude entlassen wird, danach 1944 Student an der TH München.
Wegen seiner jüdischen Abstammung wird er am 4. 10. 1944 als "Schutzhäftling" ins KZ Dachau verschleppt, am 8. 11. ins Zwangsarbeitslager Wolmirsleben in Sachsen-Anhalt, wo er bis zum Ende des Kriegs Zwangsarbeit leisten muss.

Am 1. 3. 1943 bekommt das Ehepaar Sterneck zum ersten Mal die Ankündigung seiner Deportation und Enteignung. "Sie werden davon verständigt, dass Sie zu einem Abwanderungstransport eingeteilt sind. Sie haben sich am 8. März 1943 in ihrer jetzigen Unterkunft bereit zu halten und dürfen diese ohne Erlaubnis der Geheimen Staatspolizei.... nicht – auch nicht vorübergehend – verlassen." Mitgenommen werden durften nur: "1 Paar derbe Arbeitsstiefel... 1 Arbeitsanzug, 2 Wolldecken..., 1 Essnapf, 1 Trinkbecher und 1 Löffel. Messer und Gabel dürfen nicht mitgenommen werden. Die Verpflegung während des Transports für 5 Tage ist mitzubringen..."

Die Deportation kann abgewendet werden, weil Sohn Kurt bei der Wehrmacht ist. Obwohl die Behandlung jüdischer Menschen bereits verboten ist, wird Berthold Sterneck im Nymphenburger Krankenhaus wegen einer Krebserkrankung operiert. Dort stirbt er am 25. 11. 1943.

Margarethe "Sara" Sterneck bekommt am 7. 1. 1944 erneut einen Deportationsbescheid. Zu der Zeit ist vielen klar, was in den KZs mit den Menschen geschieht. Margarethe Sterneck taucht unter. Nur mit einer Handtasche, in der sie das Wichtigste mitnimmt, verlässt sie ihre Wohnung, übernachtet bei Verwandten und flieht nach Wien. Von dort geht die Flucht nach Ering und Kufstein. Ihr Versuch, in die Schweiz einzureisen, misslingt. Nach einer weiteren Odyssee über Stuttgart kommt die Sängerin schließlich nach Schwenningen in das Johannespfarrhaus.

Pfarrer Kurz, damals Pfarrer an der Johanneskirche, - schreibt später über Margarethe Sterneck:
"Viel tragischer war der Aufenthalt von Frau Anni in unserem Hause. Ihren wirklichen Namen wissen wir nicht mehr; vielleicht wussten wir ihn überhaupt nicht. Meine kleinen Kinder sagten zu ihr "Tante Anni". Sie war die jüdische Ehefrau eines jüdischen Künstlers, der damals schon gestorben war. Sie hatte Beziehungen zu namhaften Künstlern der Opern in Prag und München. Unser Haus war damals das letzte am Westrand der Stadt und grenzte an die grüne Wiese und den Wald, was ihr als Refugium besonders günstig war. Frau Vikarin Hoffer, meine Stellvertreterin, trug den Hauptteil der Verantwortung. Sie hat die Aufnahme vermittelt und hat sich für die Ernährung der Aufgenommenen, die natürlich keinerlei Lebensmittel hatte, unter großen persönlichen Opfern eingesetzt...

Von der Aufnahme der Juden in unserem Hause wussten nur sehr wenige, treue, der Bekennenden Kirche angehörige Gemeindeglieder. Frau Anni war sehr geschickt und verfertigte unter anderem aus Stroh sehr niedliche Hausschuhe, die Fräulein Hoffer unter der Hand verkaufte und die damals gerne abgenommen wurden. Frau Anni konnte auch gut kochen; ich entsinne mich noch gut an ein Essen, das sie mir zu Ehren an meinem letzten Urlaubstage gab.

Leider waren unsere Bemühungen um ihre Rettung umsonst. Frau Anni war mit den Nerven infolge der gespannten Lage, bei der sie befürchten musste, irgendwie entdeckt zu werden, sehr mitgenommen und labil; als dann die Stadt Schwenningen in den letzten Monaten des Krieges immer wieder mit Bomben beworfen wurde, fürchtete Anni, dass sie verletzt werde und ins Krankenhaus müsste, wo ihre Personalien geprüft würden. Sie war, wenn die Bomben fielen, und die Flak schoss sehr schreckhaft und warf sich bei jeder Detonation flach auf den Kellerboden. Meine kleine, damals zweijährige Tochter gaudierte das, dass sie jedes Mal, wenn Frau Anni sich niederwarf, dasselbe unter Lachen ihr nachmachte, als wären es Freiübungen. Frau Anni hatte ein Kellergepäck, das sie immer mitnahm und sorgsam hütete. In dem Gepäck waren auch Schlaftabletten für alle Fälle. An einem der letzten Angriffe durch Bomber ist es dann geschehen, dass Frau Anni die Nerven verlor. In der Nacht, die der Entwarnung folgte (22. 2. 1945), schloss sie sich in ihrer kleinen Küche ein, legte sich schön frisiert auf eine Liege und öffnete den Gashahn. Meine Frau, die unglücklicherweise allein war, (Frl. Hoffer war fort, vielleicht um zu hamstern) hörte sie noch hinter verschlossener Tür röcheln.

Dass die Sache anlässlich ihrer Beerdigung (Pfarrer Schäfer beerdigte die deutsche Jüdin als evangelische Polin unter ihrem Decknamen Anna Czerny) nicht herauskam, ist einem doppelten Umstand zu verdanken: Erstens, infolge des Fliegerangriffs gab es viele Tote und in der Stadt herrschte ein Tohuwabohu. Zweitens, unser Kirchengemeinderat, Max Kaiser, der damals bei der Stadt eingesetzt war, verstand es, die Tote durch irgendeine Manipulation in den Besitz von Ausweispapieren zu bringen. Es wurde gesagt, sie sei als Polin, deren es damals viele in Schwenningen gab, bestattet worden. Dieses tragische Ende hat mich und meine Frau sehr betrübt, zumal dadurch das ganze Wagnis umsonst war und das nahe Ende des Kriegs bevorstand; man hörte schon im Westen die Artillerie der Amerikaner und Frl. Hoffer sowie meine Frau haben Frau Anni immer wieder Mut gemacht, dass sie doch vollends durchhält." (Kurt Rommel, 1966-1974 Pfarrer der Pauluskirche, in a+b 23/2004, S. 20f K. Rommel kannte die Ehepaare Kurz und Schäfer und Margarete Hoffer persönlich)

Beate Sautter, die Tochter Richard Schäfers, Pfarrer an der Pauluskirche, in dessen Haus selbst immer wieder Menschen jüdischen Glaubens versteckt waren, schreibt 2005:
"Auch an "Frau Anni" muss ich oft denken, ich kenne nicht einmal ihren richtigen Namen. Ich kann mich noch gut an sie erinnern, war sie doch manches Mal zu uns eingeladen, um ihr aus ihrer ungeheuren Isolierung im Dachstübchen des Johannespfarrhauses zu helfen. Sie wagte ja nicht bei Tag aus dem Haus zu gehen, durfte natürlich auch nicht in den Luftschutzkeller, wenn Fliegeralarm war. Sie war bei der Familie Kurz gut versorgt und hat manchmal ihre Kochkünste vorgeführt. Sie war eine große Sängerin, einstmals an der Oper in Prag tätig. Als sie auf Bitten meiner Mutter nach langem Zögern eine Kostprobe ihres Könnens gab, war ihre Stimme so gewaltig, dass ich damals dachte, jetzt kann ich mir vorstellen, dass unter diesen vollen Klängen Mauern einstürzen, wie einst in Jericho. Leider hat sie die Angst und den übergroßen Druck nicht ausgehalten und kurz vor dem Einmarsch der Franzosen ihrem Leben ein Ende gesetzt, uns alle natürlich dabei in größte Gefahr gebracht. Es ist unglaublich, dass es in Schwenningen in dieser schwierigen Lage Menschen gab, die unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Existenz, zu helfen bereit waren (z. B. ein Arzt musste den Totenschein ausstellen). Herr Max Kaiser konnte ihr die Papiere einer Russin unterschieben und mein Vater hat sie beerdigt. Mein Vater habe vorher noch zu meiner Mutter gesagt "Es muss ein Wunder geschehen, wenn ich wieder heimkomme." Wie leicht hätte dies alles entdeckt werden können." (Aus: Aus dem Leben meines Vaters Richard Wilhelm Schäfer... geschrieben von seiner Tochter Beate Sautter geborene Schäfer im Jahr 2005)

Margarete Hoffer schreibt über diese Zeit 1987 in einem Brief:
Dass es doch "so lächerlich wenig" gewesen sei, "Was man tat und tun konnte", und wörtlich: "Das, was einen im so engen und längeren Zusammenleben mit diesen Gejagten am meisten belastete, war nicht die stete... Angst vor Entdeckung..., sondern das Mit-Spüren ihrer ununterbrochenen Anspannung und Angst, und diese Scham, teilzuhaben an dieser entsetzlichen Schuld, an diesem schweigenden "Zuschauen des Volkes"...

Mahnwache:

Während große Teile der Evangelischen Kirche in Deutschland anfangs aus ihrer Sympathie mit der Machtübernahme der Nazis keinen Hehl machten, geriet die Kirchengemeinde Schwenningens im Laufe der Jahre zunehmend unter den Druck der neuen Herrscher. Zwar hatte man letztlich keine KZ-Aufenthalte oder Todesopfer zu beklagen, aber staatliche Repression, Schikanen, Einschüchterung und Unterdrückung waren durchaus an der Tagesordnung. Wie kam es, dass eine so angesehene Einrichtung wie die hiesige Kirche in permanentem Dauerkonflikt mit der Staatsmacht stand, während es doch in vielen anderen evangelischen Gemeinden vor Ort vergleichsweise ruhig zuging?

Kein Glockenläuten in Schwenningen

Wir schreiben das Jahr 1938, die Nazis befinden sich im sechsten Jahr ihrer Herrschaft. Am Abend des 9. April läuten nach einer Rundfunkrede Hitlers in nahezu allen Kirchen Deutschlands die Glocken, fast überall werden Dankgottesdienste abgehalten und Dankgebete gesprochen, in Predigten wird dem "Führer" für seine "Befreiungstat" - so wörtlich gedankt. Was ist geschehen? Deutsche Truppen waren in Österreich einmarschiert und haben das Land dem - wie es nun heißt "Großdeutschen Reich" - angegliedert. Ein alter nationaler Traum ist in Erfüllung gegangen, wenn auch unter dem Banner des Hakenkreuzes. Ein Begeisterungstaumel hat das ganze Land erfasst, der Jubel kennt keine Grenzen. Aber: In allen Kirchen Schwenningens bleiben die Glocken stumm, Dankgottesdienste finden nicht statt und Dankgebete werden erst recht nicht verlesen.

Wie kommt es, dass Schwenningen wie nur wenige vergleichbare andere Städte so aus der Reihe tanzt? Dies liegt vor allem an Gotthilf Weber, dem damaligen Ersten Stadtpfarrer. Er hatte nüchtern erkannt und seine Pfarrkollegen davon überzeugen können, dass das Verschwinden Österreichs von der politischen Landschaft nichts anderes bedeutet als eine Ausdehnung der Terrorherrschaft der Nazis, eine Ausweitung der Verfolgung von Juden und Andersdenkenden sowie ein dramatisches Anwachsen der Flüchtlingsströme verzweifelter Menschen. Selbst so berühmte und angesehene Menschen wie der Wiener Psychologe Sigmund Freud - 86 Jahre alt müssen jetzt das Land verlassen.

Gotthilf Weber - Wandel "von Saulus zu Paulus"

Wer ist Gotthilf Weber, der sich hier so mutig gegen den Strom stemmt? Er stammt aus dem Kreis Heilbronn, ist 38 Jahre alt und seit zwei Jahren Pfarrer in Schwenningen. Dass er sich der nationalistischen Euphorie dermaßen kompromisslos entgegenstellen würde, hätte man ihm am Anfang seines Werdegangs vermutlich nicht vorausgesagt. Denn, national und konservativ erzogen, kämpft er in den Anfangsjahren der Weimarer Republik im berüchtigten rechtsradikalen Freikorps "Brigade Erhardt" gegen die Demokratie. Und an deren Ende sympathisiert er wie viele andere Theologen auch mit der Glaubensbewegung "Deutsche Christen", welche das Evangelium mit der Naziideologie vermischen will. Sie will z. B. das Alte Testament abschaffen, weil es jüdischen Ursprungs ist, oder den sog. "Arierparagraphen" einführen und damit die Entlassung aller jüdischstämmigen Pfarrer und Pfarrhelfer durchsetzen. Eheschließungen von Deutschen und Juden sollen verboten werden, da dies zu einer "Rassenverschleierung" und "Rassen- Bastardisierung" führen würde, so wörtlich in einer Schrift der Deutschen Christen. Mindestens jeder fünfte evangelische Pfarrer ist Mitglied bei ihnen oder Sympathisant und zu Beginn des Hitlerreichs sind sie in der Ev. Kirche absolut tonangebend.

Vor allem die Anwendung des "Arierparagraphen" in vielen Kirchengemeinden öffnet Gotthilf Weber die Augen für die wahren Motive und Ziele der Nazis und er wandelt sich vom Anhänger der Deutschen Christen zu deren scharfem Gegner oder - kirchlich gesprochen vom Saulus zum Paulus. Dies zeigt sich vor allem darin, dass er sich ab 1933 beim Aufbau der Gegenbewegung gegen die Deutschen Christen engagiert, der sog. "Bekennenden Kirche". In ihren Organen wie "Pfarrernotbund" oder "Vorläufige Kirchenleitung" ist er in leitenden Funktionen tätig und macht sich dabei schnell einen Namen - immer misstrauisch beäugt von den Überwachungsorganen des Staates.

Der Schwenninger Kirchenkampf beginnt So ist es kein Zufall, dass Webers Ernennung zum Stadtpfarrer in Schwenningen 1936 bei den auch dort aktiven Deutschen Christen auf erheblichen Widerstand stößt. Es gelingt ihm aber nach langen Auseinandersetzungen, sie aus dem Kirchengemeinderat hinauszudrängen und diesen auf seine Seite zu ziehen.

Dies ist auch bitter nötig, denn ab diesem Zeitpunkt kommen die Konflikte mit dem NS-Staat, genannt "Kirchenkampf", Schlag auf Schlag. Schon lange ist deutlich geworden, wie sehr die Nazis sich bemühen, die Kinder und Jugendlichen auf ihre Seite zu bringen. So werden alle Jugendgruppen außer der Parteijugend HJ, BDM usw. verboten, die Führung der Kindergärten und des Religionsunterrichts wird den Kirchen und Pfarrern entzogen, wie überhaupt der Gestaltungsraum der Kirchen immer mehr eingeengt wird. Es ist eine der großen Leistungen von Pfarrer Weber und seinen Kollegen Kurz und Schäfer, dass in Schwenningen eine kirchliche Jugendgruppe im Geheimen weiter existiert, dass der kirchliche Kindergarten "Wilhelmspflege" in den Räumen der Kirchengemeinde weiter geführt wird, bis ein Gerichtsurteil ihn schließlich verbietet; und dass sich ein großer Teil der Schwenninger Schülerinnen und Schüler von einem sog. "Religions-Unterricht" abmeldet, der nichts anderes ist als ein Indoktrinieren der rassistischen Ideologie der Nazis. Von der Unbeugsamkeit und Konfliktbereitschaft Webers zeugen auch regelmäßige Bitt-Gottesdienste in der Stadtkirche, wo in Predigten und mit Fürbitt-Listen der Glaubensbrüder und -schwestern gedacht wird, die wegen ihrer kritischen Haltung im Gefängnis oder sogar KZ sitzen.

Schikanen, Hetzpropaganda, Haft

Die Reaktion des NS-Staates auf all diese Unbotmäßigkeiten lässt nicht auf sich warten: Ständig sitzen Parteispitzel im Gottesdienst, machen sich Notizen oder stellen provozierende Fragen. In der kirchenfeindlichen Hetz- Zeitung "Flammenzeichen" erscheint ein ganzseitiger reißerischer Artikel mit der Überschrift "Pfarrer Weber sät Sturm", in welchem all seine "Verfehlungen" verleumderisch zusammengefasst werden und aus dem hervorgeht, wie sehr der Schwenninger Pfarrer zum Ärgernis der Nazis geworden ist.

Allmählich steigern sich die Schikanen, es kommt zu Hausdurchsuchungen durch die Gestapo, zu Polizeiverhören und staatsanwaltlichen Ermittlungen, schließlich zu Gerichtsverfahren und einer Verhaftung mit 3 Tagen Untersuchungshaft. Als während eines Gottesdienstes eine Abteilung HJ-Jugendlicher provokant laut singend an der Kirche vorbeizieht, soll Weber gesagt haben: "Warten wir, bis der Spuk vorbei ist!" Doch das Urteil des Rottweiler Richters fällt überraschend milde aus: eine Geldstrafe von 300 RM. Während Webers Verhaftung kommen einige hundert Menschen zu einem Soldaritäts- Gottesdienst zusammen. Ähnliches geschieht nach dem Gerichtsprozess: Bei der Ankunft am Schwenninger Bahnhof wird er von einer riesigen Menschenmenge begrüßt. Beides zeigt, wie sehr die Kirchengemeinde - trotz mancher Spannungen - zu ihrem Pfarrer hält und insgesamt zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden ist.

Obwohl Weber ständig mit einem Bein im Gefängnis oder KZ steht, scheint er keine Ängste vor Denunziation zu haben, denn junge Kirchenhelferinnen und -helfer berichten, dass sie durch ihn zum ersten Mal erfahren haben, welche Gräuel in den Konzentrationslagern vor sich gehen. Der von Weber inspirierte Jugendliche Kurt Schlenker spricht in der Bibelgruppe offen dieses Thema an, deshalb wird er von der Gestapo verhaftet, drei Tage festgehalten und misshandelt. Viele Jahre später, während des Kriegs, weigert er sich als Flieger, die Stadt Cardiff zu bombardieren und wird vor ein Kriegsgericht gestellt. Nur die ständige Vertagung des Prozesses bis zum Ende des Krieges rettet ihn schließlich vor der Todesstrafe.

Kein Gelöbnis auf den Führer

Einen Höhepunkt von Webers Widerstandsgeist stellt, - wie anfangs schon angedeutet - sein Verhalten im Jahr 1938 dar, 3 Monate nach der Angliederung Österreichs. Alle Pfarrer sollen ein Gelöbnis auf Adolf Hitler sprechen, worin es heißt: "Ich gelobe: Ich werde dem Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe." Die meisten Geistlichen in Deutschland sprechen von der nationalen Euphorie gepackt diesen Eid widerspruchslos, während Gotthilf Weber der einzige Pfarrer in Schwenningen und im ganzen Dekanat Tuttlingen ist, der dies nicht getan hat. Überraschenderweise ist den Eid-Verweigerern nichts passiert.

5 Monate später, nach der sog. "Reichskristallnacht", verurteilt Weber die Massenpogrome gegen die Juden als "Versündigung unseres Volkes" und provoziert die Nazis mit dem Bibelwort: "Das Heil kommt von den Juden". Am Ende hat sich Weber bei den Nazis dermaßen verhasst gemacht, dass er in den letzten Kriegstagen auf einer "Schwarzen Liste" von 16 Personen steht, die von der SS erschossen werden sollen: am 21. April. Nur weil die französischen Truppen unerwartet bereits einen Tag früher, am 20. April, in Schwenningen einrücken, kann die Exekution nicht mehr ausgeführt werden.

Margarete Hoffer wird Vikarin in Schwenningen

Im Jahr 1941 sorgt Weber mit dafür, dass die österreichische Theologin Margarete Hoffer als Vikarin nach Schwenningen kommt. Als Religionslehrerin in Wien hatte Frau Hoffer viele jüdischstämmige Schülerinnen unterrichtet und muss nun nach dem sog. "Anschluss Österreichs" mit ansehen, wie diese gnadenlos unterdrückt und verfolgt werden. In einem Text 40 Jahre später 1988 spricht sie rückblickend von Szenen, die "nur Entsetzen und Scham" hervorgerufen hätten: "Fanatisierte Menschenrudel zerstörten und plünderten jüdische Geschäfte ... Ihre Inhaber und andere jüdische und judenfreundliche Nachbarn wurden unter den anfeuernden Zurufen uniformierter SA- und SS-Leute durch die Straßen gejagt ... Darunter waren auch junge Mädchen mit Plakaten um den Hals: Ich bin eine Judenhure - weil sie mit einem Juden befreundet waren. Zuschauer verfolgten schweigend das grausige Schauspiel, aber niemand wehrte ihm, niemand half den Gepeinigten."

Da die Nazis nach ihrem Machtantritt den Religionsunterricht stark reduzieren, verlässt Frau Hoffer ihr Land, hält aber noch lange Kontakt zu ehemaligen Schülerinnen, denen sie nach deren Deportation in die Ghettos von Lodz oder Kielce Geld und Pakete schickt, so lange es geht. Über die Zwischenstationen Berlin und Stuttgart gelangt sie schließlich nach Schwenningen, wo sie Pfarrer Kurz an der Johanneskirche vertritt, der zur Wehrmacht eingezogen worden ist.

Die "Sozietät" und die Hilfsaktion für untergetauchte Juden

Margarete Hoffer ist damals 35 Jahre alt und pflegt wie Pfarrer Weber auch enge Verbindung zur sog. "Sozietät", einem Bündnis entschiedener Anhänger der Bekennenden Kirche in Württemberg. Während die Amtskirche zu den Judenverfolgungen lange Zeit geschwiegen oder nur sehr halbherzige Proteste von sich gegeben hat, wird von der "Sozietät" in Stuttgart eine Hilfsaktion für untergetauchte Juden gestartet. Diese werden in der Regel für einige Zeit in Pfarrhäusern versteckt - oft wechseln sie von einem Pfarrhaus zum nächsten, und es wird versucht, ihnen Ausweise zu beschaffen sowie ihnen beim illegalen Grenzübertritt zu helfen. Natürlich setzen sich die beherzten und hilfsbereiten Pfarrer riesiger Gefahr aus, entdeckt zu werden.

Im Rahmen dieser Hilfsaktion der "Sozietät" kommen jüdische Flüchtlinge dann auch nach Schwenningen, wo sie vor allem von Frau Hoffer betreut werden, denn Pfarrer Weber ist zwar mit dabei, aber wegen der ständigen Kontrolle von oben sehr zur Vorsicht gezwungen und kann sich nicht zu sehr exponieren.

Die Judenhilfe in Schwenningen

Margarete Hoffer wird dadurch zum Dreh- und Angelpunkt der Judenhilfe in Schwenningen. Da nichts nach außen dringen darf, kann nur ein sehr kleiner Kreis von Eingeweihten sie dabei unterstützen, neben Pfarrer Weber sind dies Pfarrer Schäfer und seine Gattin sowie Lotte Kurz, die Ehefrau von Pfarrer Kurz. Daneben spielen aber auch aktive Gemeindemitglieder eine wichtige helfende Rolle, insbesondere die Kirchengemeinderäte Julius Pfäffle, Ernst Linsenmaier und Max Kaiser, auch die Pfarrsekretärin Marie Strohm sowie der Arzt und spätere OB Dr. Hans Kohler, z.T. sogar auch August Keller, der Chef der Schwenninger Polizei.

Wie schon erwähnt, geht es zunächst darum, flüchtende Juden eine Zeit lang zu beherbergen, d. h. zu verstecken. So gelangt z. B. an Pfingsten 1943 Frau Herta Pineas aus München ins Johannespfarrhaus, einige Monate später auch ihr Mann, der Neurologe Dr. Hermann Pineas. Beide verbringen dann den ganzen Winter hier, wobei ständig das Quartier gewechselt werden muss, um nicht zu sehr aufzufallen. Ausweichquartiere befinden sich vor allem bei Pfarrer Schäfer und dessen Frau im Pauluspfarrhaus und in der Oberdorfstraße 6, im Bauernhaus von Julius Pfäffle. Im Pauluspfarrhaus hält sich ab Oktober 43 für längere Zeit das Ehepaar Richard und Wilhelmine Heil auf, sie ist zwar Christin, aber als eine geborene Bloch jüdischstämmig und deshalb bedroht.

Manche der Untergetauchten bleiben nur eine oder zwei Nächte, um dann die Flucht in die Schweiz zu wagen. Frau Hoffer versucht auch hier zu helfen, aber einmal geht es schief und ihr Name wird einem Grenzer verraten. Dies zeigt noch einmal deutlich die Gefährlichkeit der ganzen Hilfsaktionen. Doch überraschenderweise erhält sie nur eine Geldstrafe von 600 RM wegen "Beihilfe zu unerlaubtem Grenzübertritt". Auch an anderen Tagen sind kritische Momente zu überstehen, zum Beispiel als eines Tages ihre Post überwacht wird. Zum Glück gibt Polizeirat Keller dem Kirchengemeinderat Max Kaiser einen Wink, der zu diesem Zeitpunkt auf das Einwohnermeldeamt abgeordnet ist und dadurch Frau Hoffer noch rechtzeitig warnen kann.

Der Tod von Margarete Sterneck

Doch nicht alles geht gut aus, denn tragisch endet das Leben von Margarete Sterneck. Die ehemals gefeierte Opernsängerin aus München lebt über ein ganzes Jahr im Johannespfarrhaus. Sie hat ihren Mann verloren, ihr Sohn befindet sich im KZ Dachau, ihre kleine Tochter ist mit dem Kindertransport nach England gebracht worden. Aus Verzweiflung macht Frau Sterneck am 22. Februar 1945, während des Luftangriffs auf Schwenningen, ihrem Leben ein Ende. Pfarrer Schäfer beerdigt die deutsche Jüdin als evangelische Polin unter ihrem Decknamen Anni Czerny. Max Kaiser kann noch die nötigen Papiere besorgen, sonst wäre der Kreis der Judenhelfer aufgeflogen. Der Fall macht noch einmal klar, mit welchen Gefahren die Judenhilfsaktionen verbunden waren, welcher Mut dazu nötig war und welche Ängste Helfer und Opfer auszustehen hatten, dass die Handlungen nicht entdeckt werden.

"Das schweigende Zuschauen des Volkes"

Nach dem Ende der Diktatur schreibt die oben schon erwähnte Frau Pineas Folgendes über Frau Hoffer: "Nie habe ich einen Menschen getroffen, der ... so intensiv und bewusst das Gute zu leben bemüht ist wie sie. Sie hat uns wirklich beherbergt und gespeist mit eigenem Verzicht, sie ist in viele Richtungen gereist, um neue Quartiere zu finden ..., sie hat uns ihre Ruhe und Entspannung geopfert und war diejenige, die volles Verständnis hatte für alle unsere Nöte und Sorgen ..."

Dagegen äußert Margarete Hoffer in einem Brief 1987, dass es doch "so lächerlich wenig" gewesen sei, "was man tat und tun konnte", und wörtlich: "Das, was einen im so engen und längeren Zusammenleben mit diesen Gejagten am meisten belastete, war nicht die stete ... Angst vor Entdeckung ..., sondern das Mit-Spüren ihrer ununterbrochenen Anspannung und Angst, und diese Scham, teilzuhaben an dieser entsetzlichen Schuld, an diesem schweigenden "Zuschauen des Volkes" ..."

Was bleibt uns heute - über 70 Jahre später - von den Erlebnissen, Erfahrungen und Erkenntnissen von Margarete Hoffer und Gotthilf Weber?

Es wäre schon einiges, wenn Staat und Kirche, Bürgerinnen und Bürger dem Gedenken an beide dadurch gerecht werden, wenn sie alles dafür tun, dass brennende Asylunterkünfte, Attacken auf Flüchtlingstransporte oder Gewalttaten gegen Fremde geächtet und nicht mehr so wie damals begleitet werden vom - wie Frau Hoffer schreibt - "schweigenden Zuschauen des Volkes".

(Dieter Brandes und Ekkehard Hausen)