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Biographien

Villinger und Schwenninger Schicksale

Viele der bisher in den Mahnwachen verlesenen Schicksale von Opfern des Nationalsozialismus in Villingen und Schwenningen sind hier, oder über die linke Seitenleiste auswählbar.

Alphabetisch geordnet






John (Familie) Reinhardt (?-?)

John Reinhardt 1999

Unsere Mahnwachen sollen ehrenvolles Gedenken an jene wecken, die für immer verstummt sind, vor Erschöpfung gestorben oder schlichtweg ermordet. Wir widmen sie auch den Menschen guten Willens, die hochherzig, mit unermüdlicher Tapferkeit und oft unter Einsatz ihres Lebens, ihren Willen der Gewalt entgegengestellt und Widerstand geleistet haben bis ans Ende. Liebe Zuhörer, schenkt ihnen die Sympathie und dankbare Zuneigung, die jede großmütige Tat verdient.

In der heutigen letzten Mahnwache dieser Saison liegen uns die Angehörigen der grossen Sinti-Familie Reinhardt am Herzen, die u.a. ihr Leben durch den Porajmos verloren haben. Das Romanes-Wort Porajmos [porai:mos] dt.: ‚das Verschlingen‘, bezeichnet den Völkermord an den Roma unter dem Nazi-Terror. Er bildet den Höhepunkt einer langen Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung der Sinti und Roma. Die Zahl der Opfer ist nicht bekannt. Nach unterschiedlichen Schätzungen liegt sie innerhalb einer großen Spannbreite. Sie ist jedoch sicher größer als 300 000 Menschen.

Aus unserer Region traf es besonders die weit verzweigte Familie Reinhardt, die Herr Leute uns jetzt vorstellen wird.

John Reinhardt, ein Überlebender erzählt uns die Geschichte seiner Familie:
"Wir waren während des Krieges eigentlich immer auf der Flucht um uns vor dem NS-Regime zu verstecken." 1941 sei er mit der Mutter, den drei Geschwistern und den wenigen Habseligkeiten zu Fuß von Rottweil auf die Alb gelaufen. Im Wald bei Wilsingen hatte die Familie der Tante ein vermeintlich sicheres Nutzquartier, zusammengenagelt mit Holzbrettern, zu bieten.

John Reinhardt vergisst diesen Augenblick nicht: Der Junge war zehn Jahre alt, als er Reisig sammelte und sich im gegenüberliegenden Waldstück zwischen Steinhilben und Wilsingen Szenen abspielten, die ihn auch im späteren Leben immer wieder einholten, die sich nur schwer verarbeiten lassen. Die Augen des kleinen Jungen sehen, wie elf Familienangehörige auf einen Pritschenwagen verladen werden, um ins Konzentrationslager gebracht zu werden. Es ist eine Fahrt ohne Wiederkehr.

Vor allem der 3. August 1944 ist für diese Familie ein Gedenktag tiefster Trauer. Es ist der Tag, an dem das sogenannte ‚Zigeunerlager‘ im KZ Auschwitz-Birkenau liquidiert worden ist.

Von den dort etwa 6000 gefangengehaltenen Sinti und Roma wurden die arbeitsfähigen ausgesondert und in Gewaltmärschen (vergleichbar den späteren Todesmärschen) in andere Konzentrationslager verschleppt. Der verbleibende ‚Rest‘, nahezu die Hälfte, also 3000 Menschen, alte Frauen, Greise, Gebrechliche, Kranke und vor allem Kinder wurden in die Gaskammer gejagt. Das geschah innerhalb einer einzigen Nacht.

13 Angehörige aus dem engeren Familienkreis der weitverzweigten Familie Reinhardt sind im KZ umgekommen, darunter fanden wir Franz, Johannes, Anton und Maria Reinhardt mit ihren Familien, Kinder von Karl und Adelgund und drei Kinder von Albert und Pauline: Brunhild, Siegfried und das Neugeborene, das nur wenige Tage am Leben bleiben durfte.

John und seine Geschwister hatten Glück und blieben unerkannt. Die Jahre bis zum Ende des Krieges wurden Jahres des Versteckspiels, der Entbehrung, des Überlebens. 1946 dann galt es für John im Alter von 14 Jahren auf eigenen Beinen das Leben zu meistern. "Gelernt habe ich ja nichts, und zur Schule bin ich keine zwei Jahre gegangen." John tat das einzige, was er konnte, nämlich Musik spielen für seinen Lebensunterhalt.

Anfang der 50er Jahre lernt John seine Frau Ursula kennen, mit der er ein erfolgreiches Unternehmen gründet. Heute ist er ‚golf spielender‘ Rentner.

56 Jhre später, nämlich im Jahr 2000, lässt Reinhardt genau an der Stelle, wo seine Verwandten das Schicksal ereilt, einen schwern Kalkstein mit bronzener Gedenktafel aufstellen unter Mitwirkung der Gemeinde. "Das lag mir schon immer auf dem Herzen" sagt er heute.

Für einen kleinen Teil der betroffenen Familie ist der Gedanke unerträglich, Stolpersteine mit dem Namen ihrer Angehörigen könnten durch achtloses Darüberlaufen beschmutzt werden. Sie möchten darauf verzichten. Wir respektieren das aus vollem Herzen.

Andere wiederum wie John und Ursula sind der Ansicht, dass gerade achtloses Darüberlaufen einen Teil der Gesinnung der heutigen Gesellschaft widerspiegelt und uns allen eine Mahnung sei. Sie befürworten Stolpersteine. Solchem Wunsch werden wir ausdrücklich nachkommen.

Theo Leute, Friedrich Engelke