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Biographien

Villinger und Schwenninger Schicksale

Viele der bisher in den Mahnwachen verlesenen Schicksale von Opfern des Nationalsozialismus in Villingen und Schwenningen sind hier, oder über die linke Seitenleiste auswählbar.

Alphabetisch geordnet






Mina und Heinrich Stiefel (15.10.1887-23.08.1944)

Nürnberger Gesetze

Der Reichstag hat im September 1935 die sog. Nürnberger Gesetze beschlossen(Reichsbürgergesetz und Blutschutzgesetz); darin wurde zwischenReichsbürgern und Staatsbürgern unterschieden: Reichsbürger sindnur "Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes". 2 Monatespäter folgte die Definition, wer Deutscher Reichsbürger sein kann.

In Paragraph 4 wurde festgelegt: "Ein Jude kann nicht Reichsbürger sein".Und dann wurde in Paragraph 5 definiert, wer Jude ist: "Jude ist, wer vonmindestens 3 der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt".

Das bedeutete:

"Blutsmäßige Einordnung eines Menschen grundsätzlich nach seinenGroßeltern". Für viele Verwaltungsvorgänge musste deshalb der sogenannteAriernachweis vorgelegt werden: Bis zu Großeltern musste dokumentiertwerden, ob sie dem Judentum zugehört hatten.

"Er /d. h. der Großelternteil/ hat einmal der jüdischen Religionsgemeinschaftangehört; dann gilt er als volljüdisch ohne Rücksicht auf seine Rassenzugehörigkeit"(Gütt u.a. S. 197); "Entscheidend ist, ob der Großelternteil zu irgendeiner Zeit seines Lebens - wenn auch nur vorübergehend - der jüdischenReligionsgemeinschaft angehört hat" (S. 198); als Ausnahme wird im Gesetzeskommentargenannt: Wenn jemand zum Judentum konvertiert ist ernicht blutsmäßig jüdisch, aber nach der Gesinnung - er wird dem Judentumzugerechnet. - Auch ein "Mischling" ("nur zwei volljüdische Großeltern") kannzu den Juden gerechnet werden, wenn er beim Erlass des Gesetzes "derjüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat" (S. 200)

Umgekehrt galt das für Konversionen nicht: Wer aus dem Judentum austrat,wurde dennoch dem Judentum zugerechnet - als Volljude galt, wer mindestens3 volljüdische Großeltern hat.

Damit war die rechtliche Grundlage dafür gelegt, welchem Personenkreisdie Rechte eines Reichsbürgers entzogen werden konnten; in den folgendenJahren wurden diese Rechte kontinuierlich eingeschränkt - bis zum Verlustdes Lebensrechtes.

Das Schicksal der Personen, die nicht "volljüdisch" waren oder konvertiertwaren oder mit einer nichtjüdischen Person verheiratet waren, blieb im DrittenReich sehr unsicher.

Dafür 2 bekannte Beispiele:

  • Viktor Klemperer stammte aus einer jüdischen Familie. Mit 31 Jahrenkonvertierte er zum Protestantismus. Seine Frau war evangelisch. In"Curriculum Vitae" beschreibt er sein Leben, nachdem er 1935 aufgrunddes Reichsbürgergesetzes seine Professur verloren hatte - ein Leben vollEinschränkungen, Verboten und Angst.
  • Edith Stein stammte aus jüdisch-orthodoxer Familie. Sie trat 1922 zumKatholizismus über, trat 1933 in ein Karmeliterkloster ein; sie wurde 1942in Auschwitz-Birkenau ermordet.
Aus den christlichen Kirchen gab es immer wieder Proteste gegen die Verfolgungder Konvertierten.

In Villingen lebten im Dritten Reich mindestens 3 Personen, die aus jüdischenFamilien kamen und konvertiert waren, 2 sind vor 1941 gestorben
  • Amalie Lehmann war evangelisch geworden; sie ist 1939 im VillingerKrankenhaus an Krebs gestorben
  • Emma Antonie Franke war katholisch geworden; sie ist im Januar 1940 imHeiliggeistspital gestorben
Hier wird an das Schicksal von Mina Stiefel und ihrem Mann erinnert.
  • Mina Stiefel, geb. Wissoker, geb. 15.10.1887 in Tilsit, ev
  • 8.4.1914 Heirat mit Heinrich Stiefel, geb. 23.7.1889 in Mannheim, Kaufmann,ev
  • - 1915 Wechsel zwischen Villingen und Mannheim
  • Ab Mitte 1916 dann in Villingen
  • Heinrich Stiefel war ab Mitte 1916 in Villingen für 3 Jahre Unteroffizierbeim hiesigen Ersatzbataillon
  • Von Mina Stiefel sind nicht viele Daten bekannt - im Unterschied zu Hausbesitzern,Kaufleuten, oder wenn Kinder überlebt haben.
  • Zu den wenigen Spuren, die sie aus der Zeit vor 1933 hinterlassen hat:
  • als Patientin im Städt. Krankenhaus musste 1923 eine Röntgen-Aufnahmevon ihrer Hand gemacht werden (die Ortskrankenkasse musste für dieKosten von 5.000.- M aufkommen).
  • Adressen, unter denen sie gemeldet war: zuerst Kalkofenstr. 14,1920 - 1927 Rietstrasse 1, 1936 Schillerstr 1.
  • Mina und Heinrich Stiefel hatten keine Kinder
  • Heinrich Stiefel Kaufmann, Handelsvertreter in Tabakwaren (1925)
  • In der 20er Jahre gehörte er zum oberen Drittel nach Einkommen berechnet.
  • Im Vorstand von Schwarzwaldvereins und Alpenverein
NS-Zeit
  • Heinrich Stiefel, 1936 in Schillerstr. 1 gemeldet, Berufsangabe: Reisender
  • seit 6.10.1939 (dienstverpflichteter) Angestellter der KolonialgroßwarenhandlungJ. Spathelf
  • Verhaftung 1944 durch Gestapo
  • Verfahren 13.5.1944 vor dem Sondergericht Freiburg:
  • seit 1941 hat er einer Villinger Kolonialwarenhändlerin Waren ohne Bezugsscheinverschafft.Dazu meint das Gericht: "Die eigentliche Triebkraft zu seinen Verfehlungendürfte die Ehefrau Stiegel (sic!), Mina Sara geb. Wissoker, sein (allesunterstrichen - Lö), die trotz eines Vorkriegsbestandes von 2 Ztr. Lebensmittelund laufender Zuwendungen durch bekannte Frauen ihrem Mannständig wegen weiterer Beschaffung von Lebensmitteln in den Ohren lag".Außerdem hat er 2.1940 - 1.1944 in seiner Wohnung "monatlich mindestens6 bis 8 mal den schweizerischen Sender Beromünster abgehörtund das Abhören auch seiner Ehefrau ermöglicht" (diese Straftat istunterstrichen). Er "bestreitet die abgehörten Nachrichten weiterverbreitetzu haben. Das Gegenteil war ihm nicht nachzuweisen."Urteil: 4 Jahre Zuchthaus (S. 33)
  • 1.2. - 3.7.1944: Untersuchungshaft in Villingen
  • 3.7. - 20.7.1944 Gerichtsgefängnis Villingen
  • 25.7. - 21.8.1944: Ensisheim/Elsaß
  • 21.8. - Mitte Okt. 1944: Strafgefangenenlager Walbach/Elsaß
  • Okt. - 25.11.1944: Ensisheim/Elsaß
  • 1.12.1944 - 20.4.1945: Strafgefangenenlager Gutach/Kinzigtal
  • Im Verfahren gegen ihn 13.5.1944 vor dem Sondergericht Freiburg hebtder Oberstaatsanwalt darauf ab, dass er "bisher einen guten Leumundgenossen und war lange Zeit im Vorstand des Schwarzwaldvereins unddes Alpenvereins tätig".
Mina Stiefel lebte in "privilegierter Mischehe": "Mischehen, ... die kinderlossind und bei denen der Mann deutschblütig ist" (s. Informationsdienst RPA20.2.1941 Nr 109, 9.01)

Da die Ehe kinderlos war und ihr Mann "deutschblütig", galten verschiedeneBestimmungen für sie nicht:
  • Kennzeichnungspflicht (Judenstern), Polizeiverordnung 1.9.1941: An Ortenzu tragen, wo er einer Person begegnen kann, die nicht zum Haushaltgehört (galt nicht für Mina Stiefel: Nach Paragraph 3 war ausgenommen:jüdische Ehefrau bei kinderloser Mischehe während der Dauer der Ehe(Information RPA 20.9.1941 Nr. 117, 9.01)
  • Wohngemeinde darf nur mit schriftlicher Erlaubnis der Ortspolizeibehördeverlassen werden (1.9.1941) (galt nicht für Mina Stiefel: Nach Paragraph3 war ausgenommen: jüdische Ehefrau bei kinderloser Mischehe währendder Dauer der Ehe (Information RPA 20.9.1941 Nr. 117, 9.01)

Als Einschränkungen galten für sie u.a.:
  • Entzug der Reichsbürgerschaft (d. h. sie hatte kein Stimmrecht in politischenAngelegenheiten, kein Recht ein öffentliches Amt zu begleiten)
  • Einschränkungen im gesellschaftlichen Bereich: Im Kommentar zum "Gesetzzum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" von 1935 heißtes: "es bleibt dem Rassebewusstsein jedes Volksgenossen überlassen, denVerkehr dieser Art mit Juden nach Möglichkeit einzuschränken" (S. 210)
  • Erhielt Zusatzname Sara
23.2.1944 durch Gestapo festgenommen und ins LandgerichtsgefängnisKonstanz eingeliefert - Verfahren gegen sie durch Gestapo betrieben(S. 29, 157): Grund: Kriegswirtschaftsverbrechen und Abhören ausländischerSender (S. 3) Durch die Gestapo wird sie nach Auschwitz verbracht. Inder Anklage gegen Heinrich Stiefel wird sie nicht als Beteiligte oder Mitwisserinangeklagt, sondern als treibende Kraft im Hintergrund genannt.23.8.1944 in Auschwitz umgekommen (S. 167) Angabe: gestorben anDarmkatarrh und Körperschwäche (S. 3). Durch Beschluss des AmtsgerichtsVillingen (20.4.1953) auf 31.12.1945 für tot erklärt (S. 161)

Entschädigung

Heinrich Stiefel

Das Polizeikommissariat Villingen rechnet Heinrich Stiefel 14.5.1946 zu den"politisch verfolgten Personen"; die Badische Landesstelle für die Betreuungder Opfer des Nationalsozialismus lehnt es ab, Heinrich Stiefel zu denpolitisch verfolgten Personen zu rechnen: "Aufgrund ihrer kriminellen Strafekönnen wir Sie weder wegen ihres eigenen politischen Deliktes noch alsHinterbliebenen Ihrer verstorbenen Ehefrau als Opfer des Nationalsozialismusanerkennen" und nocheinmal 5.7.1947 "Gerade da Sie eine jüdischeEhefrau haben, hätte es Ihnen bewußt sein müssen, daß Sie sich in keinerWeise eines kriminellen Deliktes hätten schuldig machen dürfen".

Mina Stiefel

Beschlagnahmt durch Gestapo: Schmuck (Perlenkette mit 180 echten Perlen,Goldketten, goldene Ringe, 2 Radios), viele Nahrungsmittel. Beschlagnahmein der Zeit als Heinrich Stiefel in Haft war.

Am 27.7.1952 wird als Vermögensschaden 12.080 DM angegeben.

Nach dem Tod des Ehemanns Heinrich Stiefel (5.2.1951) wird der Entschädigungsanspruchseiner 2 Geschwister auf Entschädigung für Mina Stiefelabgelehnt, da ein Entschädigungsanspruch nach § 5 und 10 bad. Entschädigungsgesetznur auf Erben 1. und 2. Ordnung übergeht; d. h. für Mina Stiefelwurde keine Entschädigung gezahlt

Auch nach 1945 wird in Akten und Briefen Mina Stiefel als Jüdin bezeichnet(nur manchmal heißt es korrekt "jüdische Abstammung" bzw. aus rassischenGründen verfolgt)

Sie wurde von den Nazis als Jüdin umgebracht, obwohl sie schon Jahrzehntenicht mehr jüdisch war.

Heinrich Stiefel ist am 5.2.1951 in Villingen gestorben.

(Heinz Lörcher)